aus: Der Sprung über die Barriere oder Wie ich den Koffer meiner Mutter verlor - Aus dem Tagebuch eines katholischen Priesters, Frankfurt 1992, Seite 43 - 48 vergr.

 

13. Juni MEIN TRAUM

Der Koffer meiner Mutter

Ich war mit einer größeren Gruppe junger Leute unterwegs. Nach der Reise fand ich mich mit den Freunden auf einem großen Schlafsaal wieder. Die Leute packten ihre Sachen aus und bezogen die Betten. Ein besonders nahestehender Freund – über das Geschlecht der Teilnehmer wurde im ganzen Traum nichts gesagt- wollte gerade das schönste Bett belegen. Es war kunstvoll geschmiedet. Es hätte aus einer Traumvilla stammen können. Aber es wurde von zwei Männern genommen und herausgetragen. Es wurde durch ein altes zusammengeschweißtes ersetzt, durch ein ausgedientes weißes Metallrohrbett, wie man es in Krankenhäusern findet.

Alle aus der Gruppe machten sich an die Abendtoilette. Ich wurde ganz unwillig, weil ich meinen zweiten Koffer nicht finden konnte. Es war der Koffer, den mir meine Mutter zurechtgemacht hatte. Es kam mir schon im Traum eigenartig vor, daß mir die Mutter den Koffer gepackt hatte. Ich bin schon oft auf Reisen gewesen und suchte und packte mir meine Sachen immer selbstzusammen. Aber diesmal hatt's nun mal meine Mutter getan und ausgerechnet dieser Koffer war verschwunden. Ich wühlte in dem andern Koffer herum, er war mehr eine Reisetasche. Aber da fanden sich nur Kleidungsstücke zum Arbeiten, eine alte Jeans, ein ausgedienter Pullover und verwaschene blaue Handtücher, wie wir sie früher bei uns zuhause hatten, um uns die ganz schmutzigen Hände nach der Gartenarbeit abzutrocknen. Da war also nichts mit der Abendtoilette. Ich wollte weg. Ich schaute mich noch einmal um und sah das Bett, das für mich vorgesehen war, schon bezogen. Zwei Kopfkissen lagen nebeneinander und eine Decke war zuıückgeschlagen. Ich stürmte hinaus und wurde wach. Der Traum war zu Ende.

Ich stand auf. Ein paar Fetzen des Traumes drängten sich im Laufe des Vormittags mal wieder ins Gedächtnis. Aber ich hatte zu tun. Mittags hatte ich dann Zeit für eine kleine Ruhe, und dann ging mir das Bett nicht aus dem Kopf. Warum mußte dieses, das schönste aller Betten aus dem Saal getragen werden? Ich stell mir dieses Traumvillenpolster vor. Es ist ganz sicher nicht nur zum Schlafen da. Wohlfühlen, die Wärme des Körpers spüren, sich verführen lassen, - soll das alles aus meinem Leben herausgetragen werden? Ich habe gelernt, daß Träume ganzwichtige Informationen und manchmal ganz intime Botschaften enthalten. Soll mir da etwa gesagt werden, daß ich mit all dem Emotionalen und Erotischen nichts zu tun habe? Ich habe immer geglaubt, auch dahin gingen meine geheimen Sehnsüchte. Sollteich mich da getäuscht haben? Sollte ich doch der Asket sein, mit dem ich manchmal solche Schwierigkeiten habe? Ich war enttäuscht. Wenn mir schon im konkreten Leben das Traumvillenbett mit allem, was dazu gehört, versagt bleibt, so war mir bisher doch wenigstens die Phantasie geblieben. Sollte das auch nicht mehr möglich sein? Habe ich mich mit all dem Zölibatären doch schon mehr abgefunden, als mir lieb ist? – Ich versuchte die Gedanken abzuschütteln. Ich war froh, daß am Nachmittag andere Termine meine Aufmerksamkeit forderten.

Dennoch begann mich der Traum zu verfolgen. Auf einmal stand der Koffer vor meinen Augen, der, den die Mutter gepackt hatte. Er muß neben der Reisetasche mit der Arbeitskleidung all das Persönliche enthalten haben, die Wäsche, die man auf der Hautträgt, und die schönen Pullover. Vielleicht sind es gerade die, die von Freundinnen handgestrickt sind, und darum besonders wärmen. Und dieser Koffer soll nicht mehr sein? Was soll das? Muß das alles raus aus meinem Leben? Was bleibt, wenn ich diesen Koffer nicht wiederfinde, nur die Arbeit und der Dienst? Grübelnd ging ich zur Abendmesse. Gleich zu Beginn intonierte der Organist das Lied Nummer 642 aus dem Gotteslob. Da wird die Kirche als eine große Stadt besungen, die vom Himmel niedersteigt und ihr Licht von Jesus erhält. Und dann heißt es in der zweiten Strophe: »Laß uns durch dein Tor herein und in dir geborgen sein, daß uns Gott erkennt. Laß herein, die draußen sind; Gott heißt jeden Sohn und Kind, der dich Mutter nennt.« -

Ich konnte mich bei der Messe kaum noch konzentrieren. Ich hatt‘s. Das also ist mit Mutter gemeint! Die Frau, die für den verlorenen Koffer zuständig ist, ist gar nicht meine liebe Mutter zu hause. Natürlich geht es um die Mutter Kirche. Und urplötzlich bekommen die Bilder des Traums eine ganz andere Bedeutung. Die Betten und der Koffer haben mit der Erotik nicht mehr das geringste zu tun. ››Ins gemachte Bett legen«, fällt mir auf einmal ein. Und damit ich mich in der behüteten Villa auch ja wohlfühle, wird mir die Mutter Kirche den säuberlich gepackten Koffermitgegeben haben. Mir fällt die Kirche ein, wie sie sich mir wirklich über Jahrzehnte dargestellt hat. Sie war als die große Mutter allgegenwärtig. Der Ablauf des Tages und des Jahres und das ganze Leben war von ihr geformt. Was im normalen Leben zu tun und zu lassen war, wußte sie. Wer Anweisungen und Gebote der Mutter übertreten hatte, mußte durch die Beichte oderandere fromme Übungen wieder ins richtige Geleis zurückgebracht werden.

Daß ich da nicht eher drauf gekommen bin! Irgendwie wollte ich vielleicht doch etwas Sexuelles erleben, wenn auch nicht in der ernüchternden Form, wie anfangs befürchtet. Vielleicht brauchen wir Priester unsere Träume ganz nötig als eine sexuelle Spielwiese. Aber diesmal ist das Thema ein ganz anderes, und nicht einmal minder emotional. Um den Koffer geht es, den mir die Mutter Kirche schon in der Kindheit und Jugend gepackt hat, und mir mitgab auf meine Reise durch die Welt. An jedem neuen Tag, bei jeder neuen Aufgabe genügte ein Griff in den Koffer, und ich wußte wo's herging. Ich habe wirklich aus diesem alten Koffer gelebt. Es war für mich auch über Jahre kaum eine Frage, daß es meine vornehmste Aufgabe war, diesen Koffer zu schützen.

Und jetzt ist der Koffer weg, so wenigstens der Traum. Klar, daß ich ängstlich suchte. Wo sind die vertrauten Hilfsmittel geblieben? Wer gibt mir meine Sicherheiten, wenn ich die alten nicht wiederfinde? - Ich will einmal den Gedanken zulassen, daß der Verlust des Koffers kein schlimmer Zufall ist. Ich will einmal versuchen, daran zu glauben, daß mir da irgendein Wohlmeinender einen Fingerzeig geben will. - Und sofort gibt es eine aufregende Bewegung. Aber bevor ich diese zulasse, muß ich noch einmal darauf bestehen, daß der Koffer bisher seine Berechtigung gehabt hat. Es war eine andere Zeit, in der er gepackt wurde und wo ich ihn übernommen habe.

Aber jetzt, wie soll es weitergehen? Ohne die feste Hand der Mutter, muß ich ganz neu anfangen zu suchen. Da gibt es nichteinfach mehr die allgemein gültige Antwort auf eine Frage, keinen ausgetretenen Weg mehr zu Himmel, vielleicht auch kein klares Wissen mehr darum, was gut und bös, richtig und falsch, heilig und verdammt ist. Ich merke, wie diese Gedanken bei mir möglich werden. Diese Vorstellungen beginnen sogar verlockend zu werden. Ich bekomme Mut zuzugeben, wie ich mich schon oft über die Kirche geärgert habe, wie ich manches schon lange für überholt und falsch angesehen habe. Aber dann wieder die Angst. Muß deswegen gleich der ganze Koffer weg? – Ich werde hin und her geworfen. Ich möchte wirklich vieles ganz anders machen, klebe aber ziemlich am Alten. Ist das Resignation? Ist die Kirche doch zu mächtig? - Sie ist mir trotz aller Kritik auch wohl zu heilig. Und ganz gewiß bin ich auch noch zu unselbständig und schreie förmlich nach der Hand der Mutter.

Der Traum trifft mich genau an einer schwachen Stelle: Ich will Veränderung und wehre mich gleichzeitig mit allen erdenklichen Waffen. Ich möchte ihm folgen, fürchte aber gleichzeitig um die letzte Oase meiner inneren Ruhe. Und wenn ich nachgebe, welcher Autorität folge ich dann eigentlich? Kann ein einfacher Traum, so ein nächtliches Schattenbild, eine solche Verbindlichkeit haben, daß er ganze Traditionen der Kirche infragestellen kann?

Ich muß mit der Möglichkeit rechnen, daß aus meinem Traumirgendwelche chaotischen Triebe sprechen. Der Traum wirft mich in eine ungeheure Spannung. Ich ahne, daß hier wichtige Weichen für mein weiteres Leben gestellt werden können.

Die Folgezeit ließ mich immer wieder neu nach dem Koffer suchen. Aber gleichzeitig kam Erleichterung darüber auf, daß ich ihn verloren habe. Ich wurde im Laufe der Zeit immer sicherer, daß da nicht irgendeine dunkle Macht, sondern eine wohlmeinende Stimme sprach, ja sogar eine göttliche Autorität. Beweisen kann ich das nicht. Aber es wächst die Gewißheit, die stärker ist als jeder Beweis, daß ich dem Traum folgen muß, und zwar endgültig. Ich muß die Jeans aus der Reisetasche anziehen und kräftig Hand anlegen - an mir selbst. Ich werde von Grund auf neu lernen müssen, daß Glaube und Seelsorge nicht mit dem Griff in den schon immer bereitstehenden Koffer zu machen ist. Auch mein persönliches Glaubensleben muß ich neu in Ordnung bringen. Es ist überall von Routine erstarrt. Ich ertappe mich dabei, daß ich dem lieben Gott das Brevier vorlese, anstatt es zu meinem persönlichen Gebet zu machen. In der H1. Messe erlebe ich die gleiche Gefahr. Wir Priester halten äußerlich den geforderten Lebensstil ein, haben aber schöne Möglichkeiten, uns schadlos zu halten, in unseren Traumvillen, Pfarrhaus genannt, in Traumreisen und sonstwo. Diese von der Tradition gepackten Koffer darf es wirklich nicht mehr geben. Wir wiegen uns in der Sicherheit unseres Traumvillenbettes und verlieren das Gespür für die wirklichen Fragen und Ängste der Menschen.

Also heraus aus dem Himmelbett und hinein in das Krankenbett und die bittere Medizin genommen. Je deutlicher mir der Traum meine Krankheit diagnostiziert, desto stärker wird die Sehnsucht nach einer grundlegenden Therapie. Es wird höchste Zeit. Wir müssen mitansehen, wie immer mehr Menschen der Kirche den Rücken kehren. Wir müssen begreifen, daß das Motiv dafür nicht allein Gleichgültigkeit und Unglaube ist. Viele Menschen fühlen sich von uns im Stich gelassen. Sie sehen, wie wir alte Antworten ausgraben, aber auf die Nöte der Fragen kaum hören. Darum haben viele Christen ihren Mutter-Kirche-Koffer schon lange weggeworfen.

Trotzdem, ich kann die Kirche nicht abschreiben. Sie hat trotz allem einen großen Erfahrungsschatz und hat zu allen Zeiten gute Seelsorger gehabt. Aber die Schätze dürfen nicht zur Trickkiste verkommen und die Seelsorger nicht zu Antwortautomaten.

Gott sei Dank endet der Traum versöhnlich. Beim Hinausgehen sehe ich die beiden Kopfkissen und die zurückgeschlagene Decke. Es gibt vielleicht doch noch die Vermählung der beiden Glaubenswelten, die im Moment noch in mir im Streit liegen, die Welt der Traditionen und die der persönlichen Glaubenskreativitäten.

Ich hoffe, mein Traum hat recht.

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© Georg Meier-Gerlich