aus Georg Meier, Brief eines alten Mannes an seine Schwestern und Pfleger, in der Zeitschaft Krankendienst 59./1986, Seite 87

 

Danke, Euch allen! Über vier Wochen war ich bei Euch. Ich will nicht sagen, dass ich froh war, bei Euch gewesen zu sein. Schon lieber wäre ich gesund geblieben. Aber dennoch hat mir die Krankheit viele neue Erlebnisse gebracht, nicht zuletzt durch Euch. Verzeiht mir, dass ich das vertraute Ihr und Euch brauche. Ihr wart mir in vielen schlimmen, angsterfüllten Stunden so nahe, ohne es vielleicht zu erahnen. Ich darf das ein wenig beschreiben und versucht, hinter diesen Worten und Zeilen die Gefühle eines alten Mannes nachzufühlen. Ich habe so viel von Euch gelernt. Versucht auch ein bißchen von mir zu lernen, von meinen Gefühlen, von den Gefühlen eines alten Mannes.

Ich wurde bei Euch eingeliefert. Die Fahrer des Krankenwagens hielten mich für bewußlos. Ich konnte ja auch nicht mehr reden und mich nicht mehr äußern. Aber ich habe dennoch - oder gerade deswegen? - alles, was passierte, tief empfunden. - Eingeliefert! Ich fühlte mich angeliefert. Die Helfer taten alles mit einer Routine, die es gelernt hatte, nicht zu verletzen. Sie haben alles getan, was in einem solchen Moment gut ist. Dass ich mich Euch angeliefert gefühlt habe, das ist nicht ihre Schuld. Es gibt Momente im Leben, da kann man seine Gefühle mit keinem teilen.

Ich kam zu Euch. Ihr empfingt mich freundlich. Wieder die Routine, die weiß, wie man mit Patienten umgeht, sie nicht zu verletzen. Ich konnte nichts sagen. Alles lief wie ein Film vor mir ab, wie ein Film in der dunklen Nacht der Angst. Wieder die bohrenden Worte: eingeliefert - angeliefert - ausgeliefert! - Ich zuckt zusammen, wenn ich gestehe, ich hätte mich Euch ausgeliefert gefühlt. Ich bin in meinem Leben oft an die Grenze gestoßen, ich habe schonungslos meine Schwächen vor Augen gehabt. Immer hatte ich das Gefühl ausgeliefert zu sein, aber - und das war mein Trost - in erster Linie immer meiner Frau, meiner Familie, meinen guten Freunden. In diesen Wochen der Krankheit war ich eigentlich zum erstenmal völlig fremden Menschen anvertraut. ... Eigentlich hattet Ihr überhaupt keine Chance, in meinem Urteil gut wegzukommen. Ich musste Euch immer mit meiner Frau und meinen guten Freunden vergleichen, die mir in so vielen hilflosen Stunden liebevoll geholfen haben. Ich darf Euch heute sagen: in vielen Momenten meiner Krankheit wart Ihr für mich wie ein Engel vom Himmel. Eure Routine war die gesunde Verpackung einer einfühlsamen Menschenliebe, die nicht zu nahe treten wollte. Ich danke Euch. Glaubt mir, ohne diese respektvolle Liebe wäre ich zugrunde gegangen, wäre eingegangen inmitten der besten Medizin und der saubersten Versorgung. Ihr konntet ja gar nicht erahnen, was es für mich bedeutet hat, gerade in den Tagen der so schlimmen Krankheit die vertraute Wohnung mit einem Krankenzimmer vertauschen zu müssen, wo selbst die eigene Frau zur Besucherin wird. Aber Ihr habt mir geholfe, als ob Ihr es gewußt hättet.

Ich glaube auch nicht, dass Ihr es erahnen könnt, was es heißt, morgens nackt vor Euch zu liegen, nackt vor den jungen Mädchen und Burschen, die das Leben noch vor sich haben, das ich so genossen habe. Aber Ihr alle, ältere wie jüngere, habt mir gerade hier Eure respektvolle Nähe geschenkt. Ich könnte Euch umarmen. Danke!

Meine Krankheit und das Erlebnis mit Euch haben mir einen neuen Zugang zu den Menschen geschenkt. Jetzt kann ich besser an das Gute in allen glauben und mit größerem Vertrauen gehe ich in die letzten Jahre meines Lebens. Dafür danke ich dem lieben Gott und bete für Euch, dass Ihr noch viele Menschen so reich beschenken könnt.

 

 

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© Georg Meier-Gerlich